Katrin Lange im Exklusiv-Interview: „Es war eine infame Rufmordkampagne gegen mich“

Jetzt spricht Katrin Lange: Brandenburgs Ex-Innenministerin über den Rauswurf ihres Verfassungsschutzchefs, ihren Rücktritt und einen Richtungskampf in der SPD, der nicht entschieden ist.
Katrin Lange hat als Treffpunkt ihr Wahlkreisbüro von Pritzwalk vorgeschlagen. Es liegt mitten auf dem Marktplatz, der an andere ostdeutsche Städte erinnert: hübsche Fassaden, leere Bürgersteige. Ein Mann mit Kampfhund ruft ihr zu: „Die SPD ist eine Schrottpartei!“ Eine Frau, die zwischen Männern beim Nachmittagsbier sitzt, fragt, ob sie jetzt Bürgermeisterin werde. Nein, sagt Lange. Schade, entgegnet die Frau.
Es ist das erste Interview, das die Brandenburger Sozialdemokratin nach dem Rauswurf ihres Verfassungsschutzchefs und ihrem Rücktritt gibt. Vier Wochen sind seitdem vergangen. Sie wirkt ruhig und gefasst.
Frau Lange, kannten Sie Jörg Müller, den Chef des Brandenburger Verfassungsschutzes, als Sie Ministerin wurden?
Ja. Als ich Staatssekretärin im Innenministerium wurde, arbeitete er schon im Hause. Später wurde er Büroleiter des damaligen Ministers.
Hat er sich bei Ihnen vorgestellt oder wie läuft sowas, wenn eine neue Ministerin da ist?
Es gab eine Vorstellungsrunde, da waren alle Abteilungsleiter dabei. Später sind mein Staatssekretär und ich in alle Abteilungen gegangen, um die wichtigen Themen zu besprechen. Natürlich spielten die AfD und der neue Verfassungsschutzbericht da eine Rolle.

Hat er Ihnen da auch gesagt, dass an einem Bericht über die Hochstufung der AfD zur gesichert rechtsextremen Bestrebung gearbeitet wird?
Das war allgemein bekannt. Mir auch. Es geht hier aber nicht um die Arbeit an einem Vermerk, sondern um die Entscheidung zur Hochstufung selbst.
Katrin Lange: „Kryptische Mail, in der ein entscheidender Punkt fehlte“War Ihnen klar, dass es zu einem Konflikt mit ihm dazu kommen könnte?
Es gab von mir die Ansage an Herrn Müller, dass Brandenburg die Entscheidung des Bundes abwarten soll. Ich ging dabei davon aus, dass der Bund demnächst über eine mögliche Hochstufung entscheiden würde. Das war dann ja auch so, auch wenn wir alle vom konkreten Zeitpunkt überrascht waren – so kurz vor Amtsantritt der neuen Bundesregierung.
Nancy Faeser hat die Hochstufung am 2. Mai verkündet. Wie haben Sie darauf reagiert?
Es gab an dem Tag Presseanfragen an uns. Ich habe Herrn Müller daraufhin gebeten, zu prüfen, welche unmittelbaren Folgen das hat für Brandenburg. Als Antwort kam eine im Rückblick höchst kryptische Mail, in der der entscheidende Punkt fehlt: Nämlich, dass Brandenburg dieselbe Hochstufung wie der Bund am 14. April bereits vorgenommen hatte.
Was genau stand in der Mail?
Im ersten Teil steht, dass die Einstufung durch den Bund keine unmittelbaren Auswirkungen auf eine mögliche Einstufung des Landesverbands Brandenburg der AfD durch den Verfassungsschutz habe, da diese jeweils gesondert erfolgen müsse. Im Föderalismus treffe eben jedes Land seine eigenen Entscheidungen. Aha, nichts Neues für Brandenburg also, dachte ich. Zumal ja ausdrücklich von einer „möglichen Einstufung“ die Rede war.
Und dann?
Dann folgt praktisch das Gegenteil des zuvor Gesagten. Müller schlug vor, das angebliche Momentum zu nutzen, und anlässlich der Entscheidung des Bundes quasi nebenbei zu erklären, dass die AfD auch in Brandenburg nunmehr vom Verdachtsfall zur erwiesenen extremistischen Bestrebung hochgestuft wurde. Das Wort „nunmehr“ verschleierte dabei aber, dass er selbst die Entscheidung längst getroffen hatte, nämlich am 14. April.
Wie haben Sie auf die Mail reagiert?
Sie kam kurz nach 13 Uhr, ich war hier in der Prignitz, es war der Brückentag nach dem 1. Mai, ein Freitag. Wir hatten dann eine Telefonschalte, um unsere Presseerklärung abzustimmen. Herr Müller erwähnte dabei immer noch nicht, dass er die Hochstufung der AfD am 14. April selbst vorgenommen hatte. Sonst hätte ja unsere Presseerklärung vom 2. Mai ganz anders aussehen müssen. Für mich war seine eigenartige Mail aber der Anlass, mir den aktuellen Brandenburger Sachstand kommen zu lassen – der längst hätte bei mir sein müssen.
Wann haben Sie den bekommen?
Nach dem Wochenende, am 5. Mai, lag der Einstufungsvermerk mit einem Begleitschreiben im Ministerbüro vor. Darin war erstmals explizit von der bereits erfolgten Einstufung am 14. April die Rede. Also drei Wochen nach dem Vorgang.

Jörg Müller bestreitet das. Er sagt, er habe Sie darüber informiert, die Hochstufung unterzeichnet zu haben.
Das habe ich nie so verstanden. Er wollte es alleine machen, wusste aber, dass ich das nicht wünschte und davon ausging, darüber am Ende ohnehin selbst entscheiden zu müssen. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass das an mir vorbeilaufen könnte.
Die Entscheidung durfte er doch aber allein treffen? Ihr Vorgänger, CDU-Innenminister Michael Stübgen, hatte eine entsprechende Dienstanweisung erlassen.
Nein, durfte er nicht. Nämlich dann nicht, wenn klar war, dass er damit gegen die Auffassung der Hausleitung handeln würde. Keine Dienstanweisung ermächtigt zu einem Handeln an der eigenen Ministerin vorbei. In keinem Ministerium der Welt. Herr Müller war politischer Beamter. Und im Verfassungsschutzgesetz steht klar: „Verfassungsschutzbehörde ist das Ministerium des Innern“. Also nicht die Abteilung 5 selbst. Herr Müller kannte meine Auffassung, die Entscheidung im Bund abzuwarten. Ich habe ihm das selbst gesagt, zum Beispiel am 9. April, da war auch mein Staatssekretär dabei, und auch am 14. April. Er hätte warten müssen.
In diesen Gesprächen war Ihnen aber klar, dass er die AfD hochstufen will?
Ja, es war klar, dass er das wollte. Mir war aber nicht klar, dass er die Hochstufung eigenmächtig vornehmen würde und sich dabei auf eine Dienstanweisung berufen würde, die ich damals nicht kannte.
Wollten Sie die Hochstufung verhindern?
Ich wollte gar nichts verhindern. Ich wollte die Entscheidung des Bundes abwarten. Und unseren Sachstand kennen. Es stand auch noch eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Potsdam aus über die bereits 2020 vorgenommene Einstufung der AfD Brandenburg als Verdachtsfall.
Wie kann es sein, dass Sie die Dienstanweisung nicht kannten, auf die sich Müller beruft?
Aus meiner Zeit als Staatssekretärin kannte ich eine andere Dienstanweisung, die solche Entscheidungen – insbesondere in politisch relevanten Fällen – dem jeweiligen Minister vorbehält. Und das ist bei der Einstufung einer 30-Prozent-Partei zweifellos der Fall. Über die neue Regelung hätte ich klipp und klar informiert werden müssen, und zwar auf direktem Wege. Aber wie gesagt: Keine Dienstanweisung der Welt ermöglicht ein Handeln an der eigenen Hausleitung vorbei.
Fühlen Sie sich ausgetrickst?
Ich fühle mich hintergangen und getäuscht.

Glauben Sie, Jörg Müller hatte politische Motive für sein Handeln?
Ich weiß nicht, was ihn bewegt hat. Dass aber in den Wochen nach dem 14. April ständig um den heißen Brei herumgeredet worden ist, anstatt Klartext zu sprechen, lässt mich vermuten, dass ihm irgendwann selbst gedämmert ist, dass er etwas getan hatte, was er nicht hätte tun dürfen ohne meine Billigung. Daher das Geschwurbel. Natürlich verfolgte er als Verfassungsschutzchef auch einen bestimmten inhaltlichen Kurs. Aber das ist völlig legitim.
Welchen Kurs meinen Sie?
Dass man bei der Bekämpfung der AfD alle Möglichkeiten des Verfassungsschutzes ausschöpfen soll, einschließlich der Ausweitung der Beobachtung und der weiteren Hochstufung. Das hat er in Gesprächen vertreten, das hat man ihm auch angemerkt. Letztlich dient das natürlich der Vorbereitung eines Parteiverbots.
Sie sind anderer Ansicht?
Ich bin skeptisch. Ich bin dafür, die politische Herausforderung durch die AfD in erster Linie politisch zu beantworten. Die Rolle der Politik ist dabei deutlich wichtiger als die des Verfassungsschutzes. Nehmen Sie Thüringen: Dort gibt es mit Björn Höcke den radikalsten AfD-Landesverband, der schon seit vier Jahren als erwiesen rechtsextrem eingestuft ist. Und das Ergebnis? Bei der letzten Landtagswahl wurde die AfD dort mit Abstand stärkste Partei, während meine Partei gerade noch auf sechs Prozent kommt. Der dortige Kurs, der AfD entgegenzutreten, ist offensichtlich kein Erfolgsmodell und Vorbild für andere. Ich verstehe nicht, dass das nicht gesehen wird.
Katrin Lange: „Habe dann nochmal eine Nacht drüber geschlafen“Wann haben Sie entschieden, Müller zu entlassen?
Am 5. Mai, dem Montag, an dem die Unterlagen kamen und ich festgestellt habe, dass die Einstufung bereits vorgenommen worden war, hatten wir nochmal ein Gespräch in größerer Runde. Es ging um eine Pressekonferenz, auf der ich den Verfassungsschutzbericht vorstellen sollte. Die war für den 12. Mai geplant. Der Verfassungsschutz hatte dazu vorbereitende Unterlagen zugearbeitet. Auch einen Sprechzettel. Darauf war die Rede von der „heutigen Entscheidung“. Das wäre die Unwahrheit gewesen. Die Folie der Präsentation hatte den Titel: „Verdachtsfall AfD Brandenburg“ – zu einem Zeitpunkt, als die AfD in Brandenburg schon längst kein Verdachtsfall mehr war. Auch in diesen Unterlagen stand nichts vom 14. April. Ich habe dann nochmal eine Nacht drüber geschlafen und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass das nötige Vertrauen nicht mehr vorhanden war.
Haben Sie ihn persönlich entlassen?
Ja. Mein Staatssekretär war dabei. Herr Müller hat sinngemäß gesagt: Naja, dann kann ich mir meine Entschuldigung ja sparen, und klappte seinen Laptop zu. Er hatte offenbar etwas vorbereitet. Wir haben das dann ganz ordentlich beendet.
Hätten Sie Jörg Müller nicht viel eher deutlich fragen müssen: Was ist denn nun Sache, gibt es eine unterschriebene Hochstufung?
Ich hätte den Austausch zwischen Hausleitung und Verfassungsschutz seit Dezember anders strukturieren müssen. Klarer und verbindlicher. Das ist schon mein Fehler. Ich halte es auch für möglich, dass wir teilweise aneinander vorbeigeredet haben. Ich unterstelle keine böse Absicht. Aber das ändert nichts daran, dass ein politischer Beamter sich nicht über Vorgaben der Ministerin hinwegsetzen kann. Unter keinen Umständen. Rückblickend fallen natürlich die verschleiernden und seltsam unkonkreten Formulierungen seit dem 14. April ins Auge – sie legen nahe, dass hier tatsächlich zuvor etwas Ungewöhnliches passiert war.
Dennoch sind Sie zehn Tage nach der Entlassung von Müller selbst zurückgetreten. Warum?
Das lag am mangelnden Rückhalt in der eigenen Partei und Fraktion. Da wurde eine infame Rufmordkampagne gegen mich inszeniert. Und immer schön hintenrum. Wenn mich Grüne oder Linke kritisieren, muss ich das aushalten. Die CDU hat auch mitgemacht, was nicht erstaunt, denn hier in Brandenburg haben wir die dümmste und schlechteste CDU Deutschlands. Aber es waren Teile der eigenen Partei, die mir vorgeworfen haben, „rechtsextreme Diskurse“ zu bedienen oder mir die „sozialdemokratische DNA“ abgesprochen haben. Das waren schäbigste Diffamierungen, die ich nicht mehr bereit war zu ertragen. Meine Politik entsprach eins zu eins unserem gemeinsam vereinbarten Koalitionsvertrag, alles andere sind Fake News.

Auch in Zeitungen war dieser Vorwurf zu lesen, Sie machten gemeinsame Sache mit der AfD.
Auch das war Teil der Rufmordkampagne gegen mich. Wer Probleme anspricht, die nun einmal da sind, macht keine gemeinsame Sache mit irgendwem. Außer mit der Wirklichkeit.
Hat der Druck der Medien mit dazu beigetragen, dass Sie zurückgetreten sind?
Ja, natürlich. Es wurden ständig Dinge an die Presse durchgestochen oder weiterkolportiert, die zu einem sehr einseitigen Bild der Abläufe geführt haben. Das hörte auch nicht auf und dagegen konnte ich mich nicht wehren. Viele Kollegen waren ziemlich erschrocken und haben gefragt: Was fallen die so über dich her?
Klingt fast wie ein Putsch.
Das ist nicht meine Wortwahl. Es war ein Zusammenwirken von Politik, Medien und Durchstechereien von innen mit dem Ziel, mich wegzukriegen. Das spitzte sich immer mehr zu, auch in Teilen der SPD. An dem Punkt habe ich gesagt: Das geht nicht mehr.
Dietmar Woidkes Nachfolgerin? „Hat sich für mich erledigt“Dietmar Woidke wollte nicht, dass Sie zurücktreten, hat er in seiner Stellungnahme gesagt, er könne es aber menschlich nachvollziehen. Er wirkte ganz schön angefasst, als er bei der Pressekonferenz neben Ihnen stand.
Wir haben zwölf Jahre zusammengearbeitet, drei Landtagswahlen erfolgreich bestritten. Wir kennen und mögen uns. Er ist ein Gentleman. Und er ist das stärkste Pfund, mit dem die SPD Brandenburg wuchern kann.
Er hat Sie als seine Nachfolgerin aufgebaut, Sie sollten die künftige Ministerpräsidentin werden, heißt es.
Ich habe nie Nachfolgedebatten geführt. Ich fange damit jetzt nicht an, wo sich das für mich sowieso erledigt hat. Ich hoffe, dass Dietmar Woidke noch lange unser Ministerpräsident bleibt. Der Erfolg bei den Landtagswahlen im letzten Jahr war zum großen Teil sein Erfolg. Es ist manchen in meiner Partei nicht klar, was sie ihm verdanken. Wir gewinnen auch nur noch die Landtagswahlen, wenn es um Brandenburg geht – bei Europa- und Bundestagswahlen sieht das schon ganz anders aus. Landtagswahl: Fast 31 Prozent, Bundestagswahl: keine 15 Prozent mehr. Das gibt zu denken.
Wann haben Sie ihm gesagt, dass Sie zurücktreten wollen?
Ich glaube, ich habe ihm sehr spät am Donnerstagabend gesagt, dass ich zurücktreten möchte, weil ich am Ende nicht vom Hof gejagt werden will von den eigenen Leuten. Es stimmt nicht, dass Dietmar Woidke mich fallengelassen hat, wie es teilweise in der Presse hieß. Das war meine eigene Entscheidung.
Wie erklären Sie sich, dass sich Leute in der eigenen Partei gegen Sie gewendet haben? Gab es schon länger Konflikte?
Teilen der Partei passt meine Linie nicht. Nicht bei der Sicherheit, nicht bei der Migration, nicht bei der Energiewende. Sie wollen einen anderen Kurs, letztlich eine andere Partei, eine, die deutlich weiter nach links rückt. Am besten eine linksgrüne Partei. Ich dagegen befürchte, dass dieser neue Kurs außerhalb Potsdams und des Speckgürtels verheerende Auswirkungen für die Zukunft der SPD in Brandenburg haben wird. Ich weigere mich auch, die 30 Prozent AfD-Wähler abzuschreiben, von denen wir ja wissen, dass viele von ihnen uns mal gewählt haben. Ich kann doch nicht davon ausgehen, dass das plötzlich alles gesichert Rechtsextreme sind.
Und die Politiker der AfD in Brandenburg, sind das Rechtsextreme für Sie?
Es gibt die einen, die wirklich rassistische Töne anschlagen. Ganz eklig ist das. Es gibt andere, die sind von den anderen Parteien schlicht enttäuscht und frustriert. Dann gibt es welche, die haben vor gut zehn Jahren noch einen Preis der Friedrich-Ebert-Stiftung bekommen. Die AfD ist eine massive politische Reaktion auf Probleme. Diese Reaktion gibt es anderswo in Europa auch. Man muss an diese Gründe ran, statt zu glauben, die Leute bilden sich bloß was ein. „Hass und Hetze“ als Erklärungsmuster halte ich für unterkomplex, wie man heute sagt.

Ihre Gegner innerhalb der Partei kommen vor allem aus dem Potsdamer Ortsverband von Olaf Scholz. Wie erklären Sie sich das?
Olaf Scholz hat damit nichts zu tun. Und es ist nicht nur Potsdam. Aber in Potsdam ist die SPD eine moderne Großstadtpartei, urban, linker als auf dem Land, mit stärkerer Ost-West-Durchmischung, viel öffentlicher Dienst oder staatsnahe Bereiche, viele Studenten. Das ist auch kein Problem. Das Problem ist, dass die SPD in Brandenburg immer weniger bereit ist, Unterschiede auszuhalten. Anders gesagt: Meinungsvielfalt.
Was bekommen Sie für Reaktionen auf Ihren Rücktritt?
Fast nur Unterstützung und Zuspruch. Viele Leute sind entrüstet, wollen mir Mut machen, umarmen mich beim Fleischer, sprechen mich im Potsdamer Stern-Center an, schicken mir Blumen. Manche sagen, sie haben jetzt das letzte Mal SPD gewählt, nach dem, was die da mit mir gemacht haben. Ich halte dann dagegen, denn das kann auch nicht die Lösung sein.
Wissen die Leute denn so genau, was da mit Ihnen gemacht wurde?
Es ist wie immer: Die Leute wissen natürlich vieles nicht so genau, aber sie spüren das meiste schon richtig. Ich spreche so wie sie, ich rede nicht in Sprechblasen. Hier im ländlichen Raum haben sowieso viele das Gefühl, von oben herab behandelt zu werden. Und jetzt ist die, die sowas ausgesprochen hat, auf einmal nicht mehr da.
Sie würden ganz gut in die dänische Sozialdemokratie passen, oder?
Das könnte sein. In Dänemark ist es unter sozialdemokratischer Führung gelungen, die Rechten kleinzukriegen, indem man sich dem Thema Migration vernünftig gestellt hat, anstatt die damit eben auch verbundenen Probleme in Abrede zu stellen. Zugleich wird dort eine gute Sozialpolitik gemacht. Das wäre grundsätzlich auch in Deutschland möglich.
Mit Lars Klingbeil an der Spitze?Ich wünsche der neuen Bundesregierung alles Gute. Meiner Partei ganz besonders. Auch Lars Klingbeil.
Klingt diplomatisch.
Mag sein.
Katrin Lange und das SPD-Manifest: „Ich wurde nicht gefragt“Gerade gab es Streit um das SPD-Manifest, mit dem Politiker wie Ralf Stegner in der Ukraine Friedensverhandlungen statt Aufrüstung fordern. Sie haben nicht unterschrieben. Warum nicht?
Ich wurde nicht gefragt. Ich hätte es auch eher nicht unterschrieben. Ein Armutszeugnis ist wieder der Umgang mit dem Manifest: Denunziation statt Diskussion. Das ist heute Standard bei vielen an sich notwendigen politischen Debatten in Deutschland. Ich bin natürlich auch für mehr politische und diplomatischen Anstrengungen der europäischen Staaten. Ohne solche Initiativen wird das Gemetzel in der Ukraine immer weitergehen. Aber in Deutschland ist es gelungen, die Debatte dazu vollständig zu vergiften. Da kommt nichts mehr.
Warum sind Sie eigentlich in die SPD eingetreten?
Ich komme ursprünglich aus Brandenburg an der Havel und bin in den 90er-Jahren mit meinem damaligen Partner in die Prignitz gezogen. Die Region hatte durchaus Chancen für eine gute wirtschaftliche Entwicklung, da gab es das Meyenburger Möbelwerk, das Zahnradwerk Pritzwalk, Zelluloseverarbeitung in Falkenhagen und anderes mehr. Doch die Stimmung war schlecht, die Leute wirkten deprimiert, hatten förmlich einen Stein auf der Brust.
Der Nachwendeblues.
Ja. Es wurden weniger Kinder geboren, Leute zogen weg, bekamen damals sogar noch Geld dafür, damit sie hier nicht arbeitslos rumsitzen, sondern woanders hingehen. Aber irgendwann änderte sich das. Und wir haben gesagt: Ihr könnt doch nicht alle weggehen, ihr werdet auch hier gebraucht! Das war für mich der Ausschlag, mich in der SPD zu engagieren, mit Leuten wie Manfred Stolpe, Regine Hildebrandt und Matthias Platzeck, später auch Dietmar Woidke. Die SPD Brandenburg war immer eine besondere SPD – bis heute.
Haben Sie als junge Frau auch überlegt wegzugehen?
Nee, komischerweise nie. Ich hatte zu Wendezeiten eine Berufsausbildung mit Abitur gemacht; Hochbaufacharbeiterin für Beton- und Stahlbau hieß das damals. Ich wollte später Bauingenieur werden oder Architektur studieren. Aber dann kam die Nachwendezeit und der Zusammenbruch der Wirtschaft. Meine Eltern wurden beide arbeitslos, die Aussichten waren ungewiss. Ich habe dann eine Ausbildung als Regierungsassistentin im Innenministerium Brandenburg gemacht. Das war der Einstieg in eine Verwaltungslaufbahn. Etwas Sicheres, das war der Gedanke.
Und genau in dem Ministerium wurden Sie dann 30 Jahre später Ministerin. Ihr Traumjob, hat Woidke bei Ihrem Rücktritt gesagt.
Ich hatte mich auf das neue Amt gefreut. Auch wenn klar war, dass es eine schwere Aufgabe werden würde. Nun, es hat nicht sollen sein.
Haben Sie Ihren Rücktritt schon mal bereut?
Es war die richtige Entscheidung. Ich bin jemand, der Entscheidungen treffen und die Folgen auch aushalten kann. Und ich wollte mir die Hetzkampagne gegen mich nicht länger antun. Irgendwann ist eben Schluss.
Sind Sie jetzt für die Abschaffung des Verfassungsschutzes?
Nein. Aber seine Tätigkeit muss kritisch begleitet werden. Und wir brauchen eine wirksamere parlamentarische Kontrolle in Bund und Ländern.
Haben Sie mit Ihrem Nachfolger geredet, mit René Wilke, der Bürgermeister von Frankfurt (Oder) war?
Ja. Wir kennen und schätzen uns seit Jahren, wir hatten immer ein gutes Verhältnis und haben uns natürlich über dieses und jenes unterhalten. Er ist mit seiner besonderen politischen Biografie auch einer, der manchmal etwas quer im Stall steht, so wie ich. Ich wünsche ihm wirklich alles Gute in dem neuen Amt.

Wie ist es für Sie, auf einmal so viel Zeit zu haben?
Sehr ungewohnt. Ich habe über eine sehr lange Zeit rund 80 Stunden pro Woche gearbeitet. Das muss man erstmal abtrainieren. Ich stehe immer noch morgens um fünf auf und mache erstmal meinen Sport. Überall wo ich hinkomme, werde ich angesprochen: Ach, du schon wieder hier? Mein Sohn hat neulich gefragt: Wann gehst du denn wieder richtig zur Arbeit?
Werden Sie an diesem Sonnabend zum Landesparteitag der SPD gehen? Sie treten nicht mehr als stellvertretende Vorsitzende an.
Nein. Ich muss den Kakao nicht auch noch trinken, durch den ich gezogen wurde. Mit bestimmten Leuten in der SPD Brandenburg bin ich fertig.
Und wie geht es mit Ihnen weiter?
Ich werde mir im Sommer Zeit nehmen und nachdenken. Das kam in den letzten Jahren auch zu kurz. Und meine Brötchen als Landtagsabgeordnete werde ich mir redlich verdienen. Um mich muss man sich keine Sorgen machen.
Berliner-zeitung